Hemmerden vergisst nicht. Rund 2500 Menschen leben in der kleinen Ortschaft der Stadt Grevenbroich im Rhein-Kreis Neuss. Und auch wenn der Mord an der damals elfjährigen Claudia Ruf bereits 24 Jahre her ist, in den Tagen vor Weihnachten des vergangenen Jahres schien es, als sei er gerade erst passiert. Vor der Kirche schmücken die Männer des Heimatvereins den Platz mit Tannenzweigen, sie hängen Lichterketten auf. Es ist eigentlich ein ganz normaler Samstag in der Vorweihnachtszeit, wenn nicht Reporter Kameras aufgebaut hätten. Wenn sich vor der Grundschule nicht eine Menschentraube gebildet hätte, meist mittelalte Männer, die ein Schreiben der Polizei mit sich führen. Eine Einladung zur DNA-Reihenuntersuchung.
1.900 Personen sind dazu aufgerufen, ihre Speichelprobe abzugeben
Männer, die 1996 zwischen 14 und 70 Jahren alt waren. Bundesweit wird hier in Hemmerden erstmals eine Methode angewandt, die auch »DNA-Beinahetreffer« bis zum dritten Verwandtschaftsgrad möglich macht. Die gesetzliche Grundlage ist eine Änderung der Strafprozessordnung. Für die Ermittler bedeutet dies einen neuen Ansatz. Für die Menschen in Hemmerden Hoffnung. Und für die Angehörigen von Claudia Ruf?
In einem Video hat sich der Vater des Mädchens zum ersten Mal seit dem Verschwinden seiner Tochter an die Öffentlichkeit gewandt. »Es kann ja nicht sein, dass einfach jemand ein Kind umbringt und letztlich eine Familie zerstört. Es geht mir nicht um Rache – es geht mir um Gerechtigkeit«, sagte er in dem Video, das der WDR ausgestrahlt hat. Friedhelm Ruf appellierte, an der Untersuchung teilzunehmen, er brauche Gewissheit.
Vermutlich könne er auch dann nicht damit abschließen, aber »natürlich will man wissen, was war. Denn: Claudia wäre heute über 30, ich wäre vielleicht schon Opa. Und das ist alles zerstört worden«, sagte Ruf. Zur Aufnahme des Fernsehappells begleiteten ihn Beamte des Landeskriminalamtes, als moralische Unterstützung, wie er sagte. In den Jahren seit dem Mord ist der Kontakt zwischen der Polizei und Friedhelm Ruf nie abgerissen. Von einer allerletzten Chance sprechen die Ermittler, und die wollen sie nutzen. Trotz des großen Aufwands, trotz der Arbeit, die solch ein Fall mit sich bringt, diese neue Chance setzt auch neue Kräfte frei. Das ist bei allen Beteiligten spürbar, besonders bei den Polizistinnen und Polizisten, bei denen, die sich neu mit dem Fall beschäftigen und natürlich erst recht bei denen, die der Tod des Mädchens seit Jahren nicht loslässt.
Die "operative Fallanalyse" im LKA
Andreas Müller, Leiter der operativen Fallanalyse im Landeskriminalamt, zum Beispiel: Müller und sein Team haben den Mordfall neu bewertet, analysiert, geprüft und schließlich sind sie zu der Überzeugung gelangt, dass die neuen gesetzlichen und technischen Möglichkeiten den Aufwand eines Massen-Gentests rechtfertigen. Müller ist ein nüchterner Analyst, geduldig, gewissenhaft, unprätentiös. Gerne hätten die zahlreichen Reporter, die in diesem Tagen über den Fall Claudia Ruf berichteten, daraus eine persönliche Geschichte gemacht: Müller, der verbissene Ermittler, den dieser Fall nicht loslässt, der »Chef-Profiler« des Landes in seiner höchstpersönlichen Mission, sowas in der Art. Es liegt nahe, diesen Fall so zu erzählen, denn Müller war einer der Polizisten, der auf jenem Feld in der Nähe von Euskirchen war, nachdem ein Jogger die Leiche der elfjährigen Claudia zwei Tage nach ihrem Verschwinden gefunden hatte. Doch die Realität ist eben kein Kriminalroman.
Redet man mit Müller über den Fall Claudia Ruf und die operative Fallanalyse im LKA geht es um Methodik, Wahrscheinlichkeiten und wissenschaftliche Ansätze. Müller sieht sich und sein neunköpfiges Team als Berater. »Man braucht einen gewissen Abstand, um diese Arbeit zu machen«, sagt er. Dass er damals in der zuständigen Mordkommission der Polizei Bonn arbeitete, als es nicht gelang, den Mörder und Vergewaltiger von Claudia Ruf zu ermitteln, tut heute nichts mehr zur Sache.
Rückblick
Die Zeiten damals waren anders. Begonnen haben die Ermittlungen mit der Suche nach Claudia am 11. Mai 1996. Die Elfjährige war von einem Spaziergang mit dem Hund eines Nachbarn gegen 18 Uhr nicht zurückgekehrt. Der Hund hatte gegen 18.50 Uhr alleine nach Hause gefunden, war verstört, als sei er schlecht behandelt worden, erzählen die Ermittler. Mehr als 100 Polizisten machten sich in Hemmerden auf den umliegenden Feldern und in den Wäldern auf die Suche nach dem Mädchen. Claudias Eltern, Nachbarn und viele weitere Bewohner Hemmerdens beteiligten sich an der Aktion, die bis in die tiefe Nacht dauerte. Als am frühen nächsten Morgen noch immer jede Spur von Claudia fehlte, wurde die Hundertschaft der Polizei hinzugezogen. Doch Claudia blieb vermisst. Am 13. Mai schließlich wurde die Leiche des Kindes auf einem Feld bei Euskirchen-Oberwichterich entdeckt. Der Täter hatte sie mit Benzin übergossen und angezündet. Nun wurde die Umgebung des Fundortes nach Spuren abgesucht. Auch die Öffentlichkeit wurde über den Mordfall auf dem Laufenden gehalten.
Immer wieder kam es zu Informationen aus der Bevölkerung. Immer mehr Informationen, immer mehr Hinweise, denen die Ermittler nachgingen. Sie zogen einer Schaufensterpuppe die zum Zeitpunkt der Entführung getragene Kleidung des Mädchens an. Am Kopf der Puppe wurde ein Foto befestigt. Die Bilder wurden in den Zeitungen veröffentlicht, Plakate davon hingen vor öffentlichen Gebäuden, in Bussen und Bahnen. Flugblätter erschienen in Wochenzeitungen, Polizistinnen und Polizisten liefen von Haus zu Haus und verteilten sie. Zum ersten Mal wurde von der Polizei eine Webseite zu dem Fall angelegt. Im Juli 1997 wurde der Fall bei »Aktenzeichen xy… ungelöst« vorgestellt. Es gab weitere Hinweise, und am Ende hatte die Akte »Claudia Ruf« 140.000 Seiten in 96 Aktenordnern. Man kam nicht weiter, der Fall wurde kalt. Ein »Cold Case«, der keine Ermittlungsansätze mehr bot.
Und doch gingen die Ermittlungen weiter. »Über die Jahre haben wir immer versucht, die Spurenlage weiter zu verbessern. Dies ist uns dann auch schließlich 2008 gelungen, indem wir erstmals tatrelevante DNA am Körper von Claudia gefunden haben«, sagt der Leiter der Bonner Mordkommission, Reinhold Jordan. Auch damals waren die Ermittler elektrisiert. 350 Personen, deren Namen in den Akten auftauchen, wurden zur Speichelprobe gebeten. Aber es gab keinen Treffer. Neun Jahre später wurden über einen DNA-Reihenuntersuchungsbeschluss nochmal alle Personen, die im Großraum Euskirchen und Grevenbroich wohnten und die als Sexualstraftäter in Erscheinung getreten sind, überprüft. Es ging um 120 Personen, die eine Speichelprobe abgaben, doch auch diese Untersuchung verlief negativ.
Aktuelle Ermittlungsarbeit
»Nun haben wir es durch weitere verfeinerte Methoden bei der DNA-Untersuchung geschafft, eine neue DNA-Reihenuntersuchung anzustreben. Wir suchen jetzt im Bereich Grevenbroich-Hemmerden einen örtlichen Täter«, sagt Jordan. Denn er und die Spezialisten der operativen Fallanalyse im LKA um Andreas Müller sind sich sicher, dass der Täter aus Hemmerden kommt oder einen starken Bezug zu dem Ort hatte. »Denkbar ist, dass Claudia bei dem Spaziergang den Täter traf, an seinem Haus vorbeigekommen ist und der Täter sie vielleicht mit einem Leckerli für den Hund angelockt hat. Vielleicht hat der Täter sie auch in einen nahegelegenen Raum gebracht und sie dort am gleichen Abend noch getötet«, so Jordan. Die neue Reihenuntersuchung richtet sich nach Paragraph 81h der Strafprozessordnung. Die Voraussetzungen dafür: Es muss sich um eine schwere Straftat handeln.
»Dann müssen wir Prüfungsmerkmale festlegen, das basiert hier vorliegend auf den Ergebnissen und den neuen Erkenntnissen der operativen Fallanalyse des Landeskriminalamtes. Das kann zum Beispiel das Geschlecht des Täters oder das Alter betreffen oder eine örtliche Bindung zum Tatort oder ›Sonstiges‹ «, sagt Oberstaatsanwältin Carola Guddat. Mittels einer Rasterfahndung auf Basis der Paragraphen 98 a und b der Strafprozessordnung werden die zu überprüfenden Personen mit Hilfe der Daten verschiedener Behörden festgelegt. Die werden dann eingeladen, um eine Speichelprobe abzugeben. Die DNA-Muster werden mit den Spuren, die sichergestellt wurden, abgeglichen.
»Es ist nun so, dass männliche DNA vom Körper der Claudia isoliert und typisiert werden konnte. Spurenkundlich ist diese DNA als tatrelevant einzustufen«, sagt DNA-Experte Dirk Porstendörfer vom LKA. Die Änderung des Paragraphen 81h Strafprozessordnung ermöglicht jetzt nicht nur den direkten Abgleich einer Person mit einer Spur auf Identität, sondern es ist nun auch möglich, festzustellen, »ob diese Person in einem engen genetischen verwandtschaftlichen Verhältnis zum unbekannten Spurenleger steht«, so Porstendörfer.
"Cold Case": Mord verjährt nicht
Für die »Cold Case«-Einheit beim LKA ist das nicht weniger als ein Quantensprung, sagt Andreas Müller. Der Grundsatz »Mord verjährt nicht« bekommt durch diese neue Möglichkeit noch einmal eine ganz neue Kraft. Der Fall Claudia Ruf ist nur der Anfang für eine ganze Reihe von Fällen, bei denen die Ermittlungen zum Stillstand gekommen sind und die nun wieder aufgenommen wurden und eventuell geklärt werden könnten. Die Einheit im LKA startete 2017. Vorrangiges Ziel war der Aufbau einer Datenbank mit den ungeklärten Tötungsdelikten der Jahre 1970 bis 2015. Bislang wurden in diesem Zeitraum 1.105 ungeklärte Tötungsdelikte identifiziert. Die sollten dahingehend geprüft werden, ob es sich lohnt, sie noch einmal aufzurollen, insbesondere im Bereich noch ausstehender oder modernerer kriminaltechnischer Untersuchungsmethoden. Die erkannten Ermittlungsansätze werden den Kriminalhauptstellen in einem standardisierten Anschreiben sukzessive zurückgemeldet. Die Fälle sind nach Art der vorliegenden Ermittlungsansätze kategorisiert und nach Aufklärungschancen, Ressourcenaufwand, Öffentlichkeitswirkung und Verjährungsfristen priorisiert.
Von den 484 identifizierten »Cold Cases« aus dem Zeitraum 1990 bis 2015 (Phase 1) wurden durch die Kriminalhauptstellen bislang 318 Fälle bereitgestellt. Bei weiteren 84 Fällen wurde die Bereitstellung aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt oder war nicht mehr möglich, weil in der Zwischenzeit die Tat geklärt wurde.
Von diesen 318 Fällen konnten durch die operative Fallanalyse bisher 181 Fälle qualitätsgeprüft in die Datenbank überführt werden. 174 Fälle wurden auf mögliche Ermittlungsansätze hin geprüft, kategorisiert und priorisiert. In 89 »Cold Cases« (51,14 Prozent) konnten Ermittlungs- und kriminaltechnische Untersuchungsansätze erkannt werden, die zur Klärung der bislang ungeklärten Tötungsdelikte führen könnten. Der Mord an Claudia Ruf ist nur einer dieser Fälle.
Massengentest in Hemmerden
Der Andrang in der Grundschule von Hemmerden war groß. Rund 1.000 Männer, die ins Raster fallen, gaben ihre Speichelprobe ab. Insgesamt gingen inzwischen rund 1.300 Proben zum LKA und wurden dort untersucht. Rund 600 Proben stehen noch aus. Von Männern, die seit 1996 verstorben sind, die wegzogen oder die der Einladung nicht folgten. Sie stehen nun im Fokus der Ermittlungen. »Die Männer, die trotz Einladung nicht zu den Terminen in der Grundschule erschienen sind, werden durch die Beamtinnen und Beamten aufgesucht. Männer, die inzwischen an anderen Orten in Deutschland oder im Ausland leben, werden über die örtlich zuständigen Polizeibehörden oder die Ermittlungsteams der Mordkommission kontaktiert und vor Ort um Abgabe einer Speichelprobe gebeten. Außerdem werden wir die Verwandten der Verstorbenen aufsuchen«, erklärt Jordan die weitere Vorgehensweise. Dass der Treffer noch nicht dabei war, ist nicht ungewöhnlich. Man braucht Geduld im Fall Claudia Ruf.
Ein Ergebnis steht jedoch jetzt schon fest: Die Polizei hat in den vergangenen Wochen eine große Unterstützung durch die Bevölkerung erfahren, was auch an der Transparenz und dem Einsatz der Beamten gelegen hat. So waren Polizistinnen und Polizisten im Ort unterwegs, um Broschüren zu verteilen. Das LKA hat einen Film produziert, der den Menschen genau erklärt, was mit ihrer Probe passiert und zum Beispiel deutlich machte, dass sie nur für diesen Fall verwendet wird. Auf dem Kirchplatz stand eine mobile Wache, an die die Menschen in Hemmerden sich mit ihren Fragen wenden konnten. Presse, Funk und Fernsehen wurden im Vorfeld informiert und ständig auf dem Laufenden gehalten. Wir wissen, dass wir hier alte Wunden wieder aufreißen, doch wir würden es nicht machen, wenn wir nicht die Chance sähen, diesen Fall doch noch aufzuklären, hieß es. Und die Menschen vertrauten den Behörden.
So hatte sich ein paar Tage vor der Aktion eine Initiative der Vereine von Hemmerden gebildet. Wie motivieren wir die Menschen, die Polizei bei ihrem Vorhaben zu unterstützen, fragten sich die Leute, wie schaffen wir es, dass dieses Verbrechen vielleicht doch noch aufgeklärt wird? Sie haben sich dazu entschlossen, ein großes Banner an der Kirche aufzuhängen, um die Menschen aufzurütteln, um sie daran zu erinnern, dass etwas Furchtbares hier passiert ist, etwas, das diesen Ort verändert hat. Etwas, das nicht aufgeklärt, nicht gesühnt ist, das weiterhin im Dunklen liegt. Ein Kind wurde ermordet. Die Polizei ermittelt wieder. Es gibt eine Chance. Für Hemmerden und für die Ermittler, und die muss genutzt werden.
Andreas Müller ist Leiter des Profiler Teams des LKA NRW, das aus elf Kolleginnen und Kollegen besteht. Zusammen bilden sie das Sachgebiet der »Operativen Fallanalyse« (OFA). Der Anspruch an die Teammitglieder im LKA NRW ist hoch. Hier finden sich ausschließlich erfahrene Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamte. Sie alle haben viele Jahre in Tötungs- und Sexualdelikten ermittelt, waren in Mordkommissionen eingesetzt. Die Vorerfahrung ist zwingend notwendig.
Ein neues Fallbearbeitungssystem macht es möglich: Sämtliche Informationen zu einer Tat können heute digital erfasst und bearbeitet werden. Das LKA nutzt die Möglichkeit und speichert seit Anfang 2018 ungeklärte Tötungsdelikte zentral in dieser Datenbank. Neben den Altfällen erfassen sie die aktuellen und als ungeklärt abgeschlossenen Tötungsdelikte. Mordermittler und LKA-Profiler können hier mögliche Tatzusammenhänge recherchieren, Tatabläufe rekonstruieren und Motive herleiten.