Polizeinotruf in dringenden Fällen: 110

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Andreas Horz, Leiter der Landesarbeitsgruppe: „Die Ereignisse aus Düsseldorf und Krefeld wurden über die sozialen Medien sogar bis in die USA und in die Türkei verbreitet.“
Gegeißelt im Shitstorm
Videos von Einsätzen verbreiten sich rasch in den sozialen Medien. Polizistinnen und Polizisten geraten dabei unter massiven Druck – auch wenn sie rechtens gehandelt haben.
Streife-Redaktion

Plettenberg im Märkischen Kreis, ein Nachmittag im Februar 2019. Eine Verkehrskontrolle, wie sie immer mal wieder zum Dienstalltag gehört. Der Fahrer reagiert zunächst nicht auf die Anhaltezeichen der Polizei, aus dem Fenster fliegen Reste von Betäubungsmitteln. Im Wagen sitzen fünf Männer – alle polizeibekannt. Nach der Kontrolle wollen die Insassen nicht wieder ins Auto steigen, obwohl sie von der Streife mehrmals dazu aufgefordert werden. Der Beifahrer provoziert und rennt mit ausgestreckten Armen auf Polizeioberkommissar Janik Frütel zu. Der fürchtet einen Angriff, setzt Pfefferspray gegen den Körper des Mannes ein und stoppt ihn mit einem Tritt gegen den Oberschenkel. „Durch weitere Kräfte haben wir die Situation dann unter Kontrolle gebracht“, sagt Frütel. Ende der Geschichte? Nein, nur der Anfang.

Die Szene an sich war tatsächlich unter Kontrolle, doch welche Folgen der Einsatz nach sich ziehen würde – davon hatte Frütel noch keine Vorstellung. Einer der Insassen hatte mit dem Handy den Einsatz gefilmt, eine achtsekündige Sequenz ging später in den sozialen Netzwerken viral. Hässliche Bilder. „Zwang sieht nie gut aus“, sagt Frütel. Für ihn begann eine Zeit in seinem Berufsleben, wie er sie noch nie erlebt hatte und wie er sie auch nicht wieder erleben möchte. Die örtlichen Medien berichten über vermeintliche Polizeigewalt. Dazu ein Shitstorm bei Facebook: „Hund“, „Feiger Bulle“, „Hurensohn“, steht in den Kommentaren, dazu sein voller Name und Links zu seinen Social-Media-Profilen. Die Kollegen der Dienstgruppe schreiben Strafanzeigen wegen verschiedener strafbarer Kommentare. Freunde und Familie fragen, warum Frütel bei der Verkehrskontrolle so reagiert habe.

„Jemand hat sich auf der Wache Plettenberg gemeldet und angegeben, dass ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt wurde und mein Fahrzeug und meine Adresse bekannt seien“, berichtet der Polizeioberkommissar. Objektschutz für seine Wohnanschrift wird angeordnet, dreimal pro Dienstschicht kommt die Streife zu ihm. Das Polizeipräsidium Hagen leitet ein Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt ein. „Ich hatte ein Gefühl der Überforderung, blieb zu Hause, schlief schlecht, lag nachts wach“, erzählt Frütel. „In der Öffentlichkeit fühlte ich mich beobachtet.“ Zwielichtige Gestalten treiben sich in seinem Umfeld herum, beim Einkaufen wird er beleidigt.

Fünf Monate später, an einem Sonntag im Juli, ruft ihn sein Wachleiter im Urlaub an: Das Verfahren ist eingestellt, Anklage wird nicht erhoben. Frütel: „Ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Sache abschließen kann.“ Verschiedene Medien berichten, dass das Verfahren eingestellt wurde. Für sie bleiben zwei Versionen. Eine davon: Da wurde jemand von der Polizei getreten, obwohl er die Hände über dem Kopf hatte.

Frütel denkt mit Schaudern an die Zeit zurück. Wie sehr er litt, macht er mit einem Vergleich deutlich. Ende 2021 musste er von seiner Schusswaffe Gebrauch machen, die getroffene Person lag im Koma. „Mit dieser belastenden Situation bin ich viel besser klargekommen“, berichtet er. In der Ausbildung sei er darauf vorbereitet worden, dass ihm so etwas im Dienst widerfahren kann, dass er im schlimmsten Fall auf Menschen schießen muss. Er wurde betreut, hatte Ansprechpartner. Als der Shitstorm aber über ihn hereinbrach, habe er sich hingegen komplett überfordert gefühlt.

Frütel arbeitet nun mit in der Landesarbeitsgemeinschaft „Betroffenheit identifizierbarer Polizeibeamtinnen und -beamter nach Einsätzen mit großer Reichweite in Sozialen Medien“, kurz: LAG Betroffenheit. 24 Expertinnen und Experten haben sich darin zusammengeschlossen, um der wachsenden Problematik der durch die sozialen Medien wabernden Videoschnipsel von vermeintlich überharten Polizeieinsätzen zu begegnen. Auch Polizeikommissarin Lea Wolff aus Krefeld und Polizeioberkommissar Dominik Platen aus Düsseldorf engagieren sich in der LAG unter Leitung von Andreas Horz. Sie mussten ähnliche Erfahrungen wie Frütel machen.

Besonders der Wachdienst und die Bereitschaftspolizei werden öffentlich wahrgenommen. „Die Polizei ist sichtbar und das Handeln der Einschreitenden wird fortlaufend bewertet“, formuliert die Arbeitsgruppe. Immer wieder würden Videos oder Fotos von polizeilichen Maßnahmen in den sozialen Medien so verbreitet, dass der Zusammenhang bewusst entfremdet und die Polizei in ein schlechtes Licht gerückt werde. Zuletzt führte dieses Phänomen nicht nur im dienstlichen Alltag zu schwerwiegenden Folgen, sondern wirkte sich bis in das Privatleben aus.

„Hier wird schnell deutlich, dass ein Handlungsbedarf besteht und die betroffenen Kolleginnen und Kollegen nicht alleingelassen werden dürfen“, heißt es in einer Einschätzung der LAG. „Natürlich darf dabei die Frage, ob sich die einschreitenden Kolleginnen und Kollegen professionell und rechtmäßig verhalten haben, nicht aus dem Blick geraten.“

Die Arbeitsgruppe soll einen Leitfaden entwerfen, der das Phänomen beschreibt, die Belange der Beteiligten darstellt und Empfehlungen formuliert, wie derartige Sachverhalte bestmöglich bewältigt werden können. Ein zentraler Punkt: die Fürsorgepflicht des Dienstherrn.

Dominik Platen geriet im April 2020 in den Sturm im Netz. In der Düsseldorfer Altstadt randalierten Jugendliche. Er fixierte den Kopf eines Täters zeitweise mit dem Knie – genau so, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte. Der Kreis der Schaulustigen wuchs von Minute zu Minute an, mehr als 100 Jugendliche waren da, viele filmten. „Der Einsatz war super gelaufen“, dachte Platen, „doch dann habe ich die Welt nicht mehr kapiert.“ Videos verbreiteten sich rasant über soziale Netzwerke, Medien berichteten daraufhin, der damalige Oberbürgermeister übte öffentlich Kritik, es gab Online-Anzeigen. In der Öffentlichkeit wurde der Einsatz gegen einen jugendlichen Intensivtäter in einem Atemzug mit dem US-Fall George Floyd genannt, bei dem ein schwarzer Amerikaner bei einem Polizeieinsatz getötet worden war. „Ich hätte mir gewünscht, dass mir nach außen hin jemand den Rücken stärkt“, sagt Platen heute. „Man fühlt sich total alleingelassen.“

Beschimpfungen, Misstrauen bis hin zu Morddrohungen – der Polizeioberkommissar und seine Familie mussten viel durchmachen. Und dabei hatte er doch nur so gehandelt, wie es ihm beigebracht worden war, wie er es für richtig erachtete, um größeren Schaden zu verhindern.

Für Lea Wolff geriet die Welt nach einem Einsatz in Krefeld aus den Fugen. Wie bei Frütel und Platen stellte sich bei den Untersuchungen heraus, dass auch sie nach Recht und Regeln gehandelt hatte. Und wie die beiden Kollegen geriet auch sie durch Bilder und Berichte in eine ungekannte Situation.

Was war passiert? Ein Mann hatte im Oktober 2020 vermutlich in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, ein Wohnhaus an der Hubertusstraße in Brand gesetzt. Als Wolff und ihre Kollegen eintrafen, verließ der Mann das Haus und versuchte, mit einer Stange auf die Beamtinnen und Beamten einzuschlagen. Nur mit massiver körperlicher Kraftanstrengung mehrerer Polizeibeamter gelang es, den später Angeklagten zu fixieren und vorläufig festzunehmen. Wolff geriet dabei besonders ins Blickfeld –, und in den Fokus einer Handykamera – weil sie auf den Kopf des Täters schlug. Ihre Einschätzung: „Eigentlich gut gelaufen, niemand ernstlich verletzt, Situation unter Kontrolle.“

Doch am Folgetag „ging der Spießrutenlauf los“, erinnert sie sich. Auch hier: in Zeitung, Hörfunk und TV, in den sozialen Medien sowieso, beim Einkaufen und so weiter. Übelste Beschimpfungen musste sie über sich ergehen lassen. Sie kam sich vor wie eine Geächtete. Privates und Berufliches ließ sich nicht mehr voneinander trennen.

Von ihren Kolleginnen und Kollegen bekam sie umgehend Unterstützung. Sie machten sich auf die Suche nach strafbaren Kommentaren im Netz und schrieben konsequent Anzeigen. Ihr Leiden dauerte anderthalb Jahre. Erst dann wurde das Strafverfahren gegen sie eingestellt. Ganz losgelassen hat sie das Geschehen bis heute nicht. Sie war unvorbereitet, hatte nicht erwartet, dass so etwas passieren kann. Wie umgehen damit? Was tun? Und dabei hatte sie doch gar nichts falsch gemacht. Im Gegenteil.

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